Kai-Markus Müller hat in den Neurowissenschaften promoviert und ist bekannt aus zahlreichen Medienauftritten und Reportagen in BBC, Forbes, Businessweek, ZDF, RTL, NDR, DER SPIEGEL etc. Er ist Professor für Consumer Behavior an der HFU Business School in Schwenningen und Director of Pricing Research bei den niederländischen Neuromarketing-Pionieren Neurensics, Amsterdam. Zuvor gründete und leitete er ein Start-up, in dem er NeuroPricing™ entwickelte, eine Reihe neurowissenschaftlicher Methoden zur Messung und Modellierung des optimalen Preises – eine Technologie, die inzwischen von Neurensics übernommen wurde.
GRANT: Eine naive Frage zum Einstieg: Was ist eigentlich ein Preis? Wie definieren Sie "Preis"?
Kai-Markus Müller: Ein Preis ist ein willkürlicher Zusammenhang zwischen einer Zahl und einem Produkt oder einer Dienstleistung. Warum willkürlich? Weil unsere Intuition “Preis basiert auf Kosten” logischerweise überhaupt keinen Sinn macht. Wie soll es möglich sein, beispielsweise versunkene Kosten einzupreisen? In der Hotellerie beispielsweise ein Schwimmbad oder eine Marketingkampagne? Oder denken Sie an die Pharmaindustrie, die mit einem einzigen Produkt ca. 10.000 Fehlschläge in der Forschung und Entwicklung wieder wettmachen muss!
GRANT: Viele Anbieter glauben, dass Käufer ihre Kaufentscheidungen unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse treffen, dass sie dabei vernünftig die verfügbaren Angebotsinformationen bewerten und diese auch noch mit anderen Angeboten vergleichen. Teilen Sie diese Einschätzung?
KMM: Selbstverständlich nicht. Denn Menschen kennen ihre Bedürfnisse gar nicht. Gerade für ein Hotel ist es essentiell, Angebote so zu präsentieren, dass Menschen in ihrer Entscheidung gelenkt werden. Menschen glauben gerne, dass sie frei entscheiden würden, aber das menschliche Gehirn mag die Qual der Wahl überhaupt nicht. Stattdessen sollte man eine Angebotsarchitektur so aufbauen, dass potentiellen Gästen unbewusst eine bestimmte Entscheidung leicht fällt.
GRANT: In der Hotellerie „konkurrieren“ ein und dieselben Hotels auf unterschiedlichen Vertriebskanälen mit der Absicht, mehr Direktbuchungen zu erzielen. Wie geeignet sind Lockvogel-Angebote, um Kaufentscheidungen in eine bestimmte Richtung zu lenken?
KMM: Das hängt davon ab, wie der Lockvogel gestaltet ist. Viele Hotels gestalten Lockangebote ausschließlich über einen billigen Preis. Dies ist preisstrategisch und -psychologisch ungeeignet. Es ist es vielmehr preispsychologisch sinnvoll, mit Hilfe gut gesetzter Preisanker die Entscheidung des Gastes zu lenken. Beispielsweise könnte eine sehr teure Junior-Suite die Standard-Doppelzimmer günstig erscheinen lassen. Das ist deutlich profitabler, als die Standard-Zimmer einfach günstig zu verramschen.
GRANT: Fließen Ihrer Meinung nach die realen Kosten für ein Angebot [auf Seiten des Anbieters] in das Wertempfinden der Käufer ein?
KMM: Wenn diese bekannt wären, dann könnte das sein. Kosten sind aber für fachfremde Personen nicht nachvollziehbar. Das kann jeder kurz an sich selbst überprüfen: Wie splitten sich die Kosten für eine Ihrer gern und häufig genutzten Bezahl-Apps auf Ihrem Smartphone auf? Wie splitten sich die Kosten für die Jeans auf, die Sie gerade tragen? Wenn Sie nicht aus diesen Industrien kommen, können Sie das nicht beantworten. Genauso wenig kann ein Hotelgast die realen Kosten gut einschätzen.
Kai-Markus Müller, Professor of Consumer Behavior an der HFU Business School am Campus Schwenningen: kai-markus-mueller.com
GRANT: Auf dem Hotel Revenue Forum im Januar 2023 in Mailand zeigen Sie am Beispiel des Produkts "Wasser", dass Käufer bereit sind, einen 15.000-fachen Preis zu bezahlen, wenn die Verpackung stimmt. Wie ermitteln Sie wissenschaftlich, welchen Preis Käufer bereit sind, zu bezahlen?
KMM: Mit Hilfe von NeuroPricing™ Online messen wir den Wohlfühlpreis. Wir stellen potentiellen Kunden oder Gästen auf unserer Online-Plattform bestimmte Angebote vor, beispielsweise ein bestimmtes Doppelzimmer oder ein E-Bike. Daraufhin zeigen wir verschiedene Preise, welche die Studienteilnehmer per Tastenklick als “teuer” oder “günstig” bewerten. Wir messen allerdings nicht die Antwort, sondern die Antwortzeit! Wenn die Teilnehmer ins Grübeln kommen und ein wenig länger mit der Antwort brauchen, dann sind wir nah dran am Wohlfühlpreis, und zwar unabhängig davon, ob die Antwort “teuer” oder “günstig” lautet. Wir verwenden daraufhin einen KI-gestützten Algorithmus, der unter anderem auf einem Datenschatz von 2.500 EEG-Preis-Hirnscans basiert, um Nachfrage und Umsatzprognosen zu ermitteln.
GRANT: Welche „Preishürden“ gibt es den Köpfen der Käufer?
KMM: Oftmals weniger als wir denken! Denn wie bereits erwähnt, wissen die Käufer nur wenig über die Kostenstruktur. In einer frappierenden Studie konnten wir den Wohlfühlpreis von Versicherungskäufern und -verkäufern testen. Es stellte sich heraus, dass – für die entsprechende, getestete Versicherung – die Verkäufer eine niedrigere Wertwahrnehmung hatten als die Käufer! Denken Sie darüber nach: Liegt die Preisschwelle möglicherweise gar nicht beim Kunden, sondern vielleicht bei Ihnen, als Hotelier, selbst?
GRANT: Was bedeutet das beispielsweise für die Hotellerie? Hotelgäste entscheiden immer spontaner, immer kurzfristiger, wann sie wohin reisen. Stammgäste werden seltener. Der Preisvergleich läuft übers Internet. Was sollten Hotels tun, um den optimalen Feel-Good Preis zu ermitteln? Ist der günstigste Preis wirklich der beste?
KMM: Machen Sie sich unvergleichlich. Viele Hoteliers glauben, dass die Konkurrenz etwas leicht Vergleichbares anbietet. Dies ist aber nicht der Fall. Touristen sind, insbesondere aus der Ferne, nicht in der Lage, Angebote adäquat zu vergleichen. Daher ist es empfehlenswert, die Wertwahrnehmung für Angebote im Vorfeld, z.B. mittels NeuroPricing™ Online zu ermitteln. Wer weiß, vielleicht nimmt die Konkurrenz Ihr Haus ja als Preisführer wahr und passt die Preise ebenfalls infolgedessen an.
GRANT: Sie berichten auf dem Hotel Revenue Forum ebenfalls sehr eindrücklich, dass Preise das Erlebnisempfinden von Kunden beeinflussen. Ein- und derselbe Wein schmeckt gleich viel besser, wenn er neunmal so viel kostet. Wie und in welchem Umfang würden Sie das auf die Hotellerie übertragen - besonders wenn man berücksichtigt, dass über Hotels stets das Damoklesschwert weltweit sichtbarer, schlechter Bewertungen hängt?
KMM: Diese Effekte funktionieren nur bei unbekannten Produkten. Bieten Sie regionale Spezialitäten an: regionalen Wein, regionale Fleischprodukte, traditionelle Speisen! Diese können nicht eingeordnet werden. Abzocke bei einem Glas Coca-Cola ist dagegen leicht durchschaubar und verärgert die Gäste. Was Menschen weiterhin frustriert, ist, wenn Teile des Angebots nicht funktionieren, z. B. Geräte im Fitnessraum ausfallen oder die Sauna nicht läuft. Das führt schnell zu schlechten Bewertungen.
GRANT: Apropos Bewertungen: Sie können wissenschaftlich zeigen, dass die Zahlungsbereitschaft von Kunden mit deren Persönlichkeit zusammenhängt. Wie sieht der „zahlungsbereite Kunde“ aus?
KMM: Das lässt sich in der Tat mit einem Persönlichkeitsfragebogen ermitteln, der den Preisfragen vorgeschaltet wird. Verschiedene Hotels sprechen verschiedene Persönlichkeitstypen an. Entscheidend ist, herauszufinden, welche Persönlichkeiten eine hohe und welche eine niedrigere Zahlungsbereitschaft haben. So fanden wir in einer Studie für ein erfolgreiches Haus heraus, dass diejenigen Gäste, die bereit waren, viel zu bezahlen, überraschenderweise die tendenziell ängstlichen, konservativen, introvertierten Typen waren. Diese Einsicht war dem Management des Hotels völlig neu.
GRANT: Was können Hotels tun, um diese Kunden zu erreichen?
KMM: Besagtes Haus hatte bis dahin ein kontraproduktives Marketing, das Neuheiten, Aufregung und Abenteuer betonte. Diejenigen, die viel zu zahlen bereit waren, wurden mit dieser Marketingstrategie aber gar nicht erreicht. Mit Hilfe einiger kleiner sprachlicher und visueller Anpassungen konnte die besonders interessante Zielgruppe besser angesprochen werden. Das Haus schwimmt seitdem auf einer profitablen Erfolgswelle, die ihresgleichen sucht.
GRANT: Wenn Sie ein guter Freund auf ein Glas Wein einlädt – unter der Beteuerung, es handele sich um einen exzellenten Wein - fragen Sie dann nach dem Preis, oder verlassen Sie sich auf Ihren Gaumen?
KMM: Das ist eine sehr gute Frage! Aus reiner Höflichkeit würde ich sicherlich nicht fragen. Allerdings ließe ich mich sicherlich beeinflussen, wenn ich den Preis wüsste. Obwohl ich mich ja täglich mit diesen Themen befasse, bin auch ich nicht vor den Effekten der Preispsychologie gefeit - für meine Frau, eine sparsame Schwäbin, ist das mittlerweile zu einem Running Gag geworden, wenn ich einkaufe.
GRANT: Vielen Dank für das Gespräch und für Ihre spannenden Einsichten!
Seit 20 Jahren bewegt sich Kai-Markus Müller beruflich an der Schnittstelle zwischen Psychologie, Hirnforschung und Preismanagement und hat verschiedene Werke veröffentlicht. Sein erster Erfolgstitel “NeuroPricing – Wie Kunden über Preise denken” erschien 2012 im Haufe-Verlag. Darin beschreibt Müller die mannigfaltigen Chancen, die die Psychologie und Hirnforschung dem modernen Preismanagement eröffnen. Zehn Jahre später erschien gemeinsam mit Ko-Autorin und Top-Verkäuferin Gabriele Rehbock The Invisible Game – The Secrets and the Science of Winning Minds and Winning Deals beim internationalen Verlag WILEY. Das preisgekrönte Werk übersetzt die Konsumentenpsychologie in die große Welt des professionellen B2B-Vertriebs. Im August 2023 erschien die deutsche Version “Das unsichtbare Spiel – Die verborgene Psychologie von Verhandlungen und Kaufentscheidungen” im Redline-Verlag.